Wenn wir uns wiedersehn, tanz ma olle Macarena.
Ina Regen, Macarena
Und wir lachen bis die Tränen vertrickert und vergebm san.
Nie mehr wieder stumm.
Sitz di her und i erzöh da über ollas was no schee woa,
nach deim großen Sprung.
Und i frog di ned, warum.
Jedes Mal, wenn ich dieses Lied der österreichischen Sängerin Ina Regen höre, bin ich innerhalb weniger Sekunden sehr ergriffen. Diese vier Minuten berühren mich zutiefst und erinnern mich an das Leben und den Freitod eines lieben Menschen. Dieses Ereignis war im Herbst 2019 neben anderen Themen, die sukzessive an meiner psychischen Stabilität kratzten, der letzte Schubs, der meine Seele in einen Abgrund kullern ließ.
Ich war überwältigt von einer Trauer, die ich in der Form zuvor nicht gekannt hatte. Es waren Unverständnis, Mitleid und Panik, die sich in dieser Zeit abwechselten und mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Schließlich fiel ich Anfang 2020 in eine Depression. Ich konnte meine Gedanken und Gefühle nicht mehr verarbeiten. Allem voran diese Trauer.

In mir wuchs die Überzeugung, dass ich für jene, die ihre Trauer nicht zeigen konnten, mittrauern musste. Dabei war ich mit meinem eigenen Gefühl schon überfordert. Ich wusste nicht, wie ich trauern sollte, geschweige denn für jemand anderen. Viele Wochen lang schien es, als würde ein Elefant auf meiner Brust sitzen und mir den Atem rauben.
Damals fand die Erinnerung an einen weiteren Selbstmord – den meines ersten Freundes – den Weg in mein Bewusstsein zurück. Er hatte sich 1999 kurz vor seinem 22. Geburtstag das Leben genommen, nachdem er ein Jahr zuvor bereits einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Wir waren zu dieser Zeit nicht mehr liiert gewesen, und ich hatte viele Erinnerungen – jedoch vor allem die Gefühle dazu – verdrängt.
Meine Mutter meinte, ich war oft an seinem Grab, aber ich kann mich bis heute nicht entsinnen. Was mich an ihn erinnert, ist die Narbe an meiner rechten Hand, die ich mir nach seinem Tod selbst zugefügt habe. Bei jedem Blick darauf denke ich an ihn und die Momente, in denen ich mir mit einer Büroklammer selbst diese schmerzende Wunde zugezogen habe, um meine Trauer zu betäuben.

Es gibt viele Fragen, die sich Angehörige stellen, wenn sich ein Familienmitglied oder Freund das Leben nimmt. Fragen nach dem WARUM. Vielleicht gibt es einen Abschiedsbrief, doch die Fragen bleiben. Warum hat er/sie sich keine Hilfe geholt? Warum war der Freitod die einzige Lösung? Warum habe ich nichts bemerkt?
Dieses WARUM hindert uns daran, abzuschließen. Das macht es für Angehörige oft am schmerzhaftesten. Auch wenn man dem Verstorbenen wünscht, dass er seinen Frieden gefunden hat, ist dieser fehlende Abschluss eine Bürde, die schwer zu (er)tragen ist.
Wie Ina Regen in ihrem Refrain meint: „Und i frog di ned, warum.“ Selbst wenn man sich nichts mehr wünscht, als diese Frage beantwortet zu wissen. Wenn wir stattdessen die Möglichkeit hätten, uns noch einmal persönlich von diesem geliebten Menschen zu verabschieden, unter der Bedingung, genau diese Frage nicht zu stellen – wir würden es tun. Weil wir dann den Abschied haben, der so wichtig für unseren eigenen Seelenfrieden ist.
Abschied nehmen ist keine meiner Stärken. Doch noch schlimmer ist es, wenn man gar nicht die Möglichkeit hat, sich für immer zu verabschieden. Wenn man die Person sieht und lächelnd sagt: „Bis zum nächsten Mal!“ Doch diese Person sogar schon weiß, dass es kein nächstes Mal mehr geben wird. Und dich ein paar Sekunden länger umarmt als sonst, was dir erst viel später klar wird.

Im Frühsommer 2020 hatte ich die Möglichkeit, eine psychosoziale Reha anzutreten, da die Kliniken nach dem 1. Corona-Lockdown wieder geöffnet hatten. Diese sechs Wochen voller Einzel- und Gruppentherapien und vor allem auch der Austausch mit den anderen Reha-Patienten hat mir sehr geholfen. Einige Tage vor meiner Abreise war ich dann soweit, mich auf meine Weise von den beiden Verstorbenen zu verabschieden.
Ich hatte während des Aufenthaltes für jeden einen Abschiedsbrief verfasst, den ich gemeinsam mit einem Stein in der Donau versenkte. Und neben all den Tränen, die während dieses Abschiedsrituals flossen, war der Moment, als ich – wortwörtlich – losließ, und der Stein durch die Luft Richtung Wasser flog, der schwerste – und zugleich unerwartet erleichternd, weil ich wieder atmen konnte.

Ich selbst befand mich nie in aktueller Gefahr, den Freitod als Lösung meiner Probleme anzusehen. Die Entscheidung, mir Hilfe zu suchen, erkläre ich gerne mit folgendem Bild: Ich stehe an einer T-Kreuzung. Den Blick nach links gerichtet, sehe ich einen steinigen, steilen Berg. Der Weg ist anstrengend, aber er verspricht Weitblick und Erlösung am Gipfel. Wende ich meinen Blick nach rechts, erkenne ich einen gemütlichen wirkenden Pfad, der bergab verläuft – und in einer Finsternis endet, aus der ich nicht mehr herauskomme.
Nach rechts zu gehen ist leichter, aber tief in mir weiß ich, dass dort nur der Tod auf mich wartet. Deshalb drehe ich mich nach links, dem steinigen und anstrengenden Weg zu. Ihn zu gehen wird lange dauern, aber er wird mich zu meinem Ziel führen – ein glückliches Leben zu leben. Und mit all den Erkenntnissen, die ich auf meinem Weg dorthin erfahre, werde ich es verhindern, dass ich jemals wieder an solch einer T-Kreuzung zu stehen komme.
Durch weiteres Aufarbeiten in einer Therapie erkannte ich, dass ich das Thema Suizid bereits als Kind erlebt hatte. Bei einer Familien-Weihnachtsfeier in den 1980ern hatte mein psychisch kranker Onkel versucht, aus dem Fenster zu springen – wurde aber von seinen Brüdern zurückgehalten. Ich hatte Angst vor ihm, da er groß und aufgrund seiner Krankheit manchmal unberechenbar war. Damals verstand ich noch nicht, warum er so agierte, aber die Gefährlichkeit der Situation war mir bewusst, und das schüchterte mich ein.

Ich glaube, dass dies auch heute noch oft ein Grund ist, warum Suizid als Thema tabuisiert wird. Weil es einschüchtert. Weil es Angst macht. Weil es unangenehm ist. Weil es für Menschen, die stabil im Leben stehen, unverständlich ist, warum jemand diese Entscheidung trifft. Dabei sind die Auslöser oft nachvollziehbar. Emotionale und/oder physische Misshandlung, psychische bzw. unheilbare Erkrankungen, Trennung/Verlust, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit; um nur ein paar zu nennen.
Viele Vereine und Organisationen versuchen mittlerweile, offen darüber zu diskutieren und Betroffenen zu helfen. Sogar Google schlägt als erstes Suchergebnis die Nummer der Telefonseelsorge vor. Das sind alles gute Ansätze, aber der Weg ist noch lang. Der Weg, Menschen in psychischen und emotionalen Krisensituationen zu erkennen und ihnen aktiv Hilfe anzubieten. Beziehungsweise die Schwelle der Überwindung für Betroffene zu senken. Denn kaum einer wagt selbst den Schritt hinaus in die Gesellschaft und sagt: Ich kann nicht mehr, bitte helft mir.

Jedes Jahr gehen in Österreich mehr als 1.000 Menschen in den Freitod. Mehr als 1.000 Seelen, die von Eltern, Kindern, Geschwistern, Partnern und Freunden betrauert werden. Man kann sich zeitlebens fragen, was gewesen wäre, wenn… Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Personen nicht mehr unter uns weilen, sondern nur noch in unseren Herzen und Erinnerungen lebendig sind. Den Frieden, den wir den Verstorbenen wünschen, müssen wir uns auch selbst geben, um daran nicht zugrunde zu gehen.
Ich möchte diesen Beitrag mit einem anderen Liedtext schließen. Einem Text, der mich seit den 1990er Jahren einnimmt, und mich an meinen ersten Freund erinnert.
Oh we never know where life will take us
Karla Bonoff, Goodbye my friend
I know it’s just a ride on the wheel.
And we never know when death will shake us
And we wonder how it will feel.
[…]
But I’m O.K. now, goodbye my friend.
You can go now, goodbye my friend.
Verfasst im November 2022
Unfassbar gute Gedanken zu Papier gebracht.
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Schön geschrieben
Ich hoffe dir geht’s wirklich gut
Dickes bussal
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